Sabrina Spielrein kam als junge Frau wegen einer vermeintlichen psychischen Erkrankung in die Schweiz, wo sie von Carl Gustav Jung behandelt wurde. Von der Psychoanalyse begeistert, absolvierte sie ein Studium und wurde eine der ersten Psychoanalytikerinnen. Nach ihrer Heirat und der Geburt ihrer zwei Töchter lebte sie in ihrer Geburtsstadt Rostow am Don, wo sie 1942 zusammen mit 25'000 anderen jüdischstämmigen Einwohnerinnen und Einwohnern von deutschen Truppen ermordet wurde.
Sabina Spielrein wurde am 7. November 1885 als Tochter des vermögenden russisch-jüdischen Kaufmanns Nikolai Arkadjewitsch Spielrein und seiner Frau, der Zahnärztin Eva Markowna Ljublinskaja in Rostow am Don geboren. Sie besuchte das Mädchengymnasium in Rostow und schloss es 1904 mit der Reifeprüfung ab. Wegen einer vermeintlichen psychischen Erkrankung liessen sie ihre Eltern mit der Diagnose einer «Hysterie» in die psychiatrische Universitätsklinik «Bughölzli» in Zürich einweisen. Von 1905 bis 1907 war sie dort Patientin von Oberarzt Carl Gustav Jung, der sie psychoanalytisch behandelte. Im Frühling 1905 begann Sabina Spielrein ein Medizinstudium an der Universität Zürich. Jung erwähnte seine Patientin gegenüber Sigmund Freud in mehreren Briefen, erstmals erwähnte er die «20-jährige russische Studentin» im Oktober 1906. Im Sommer 1907 schreibt er davon, dass die «hysterische Patientin» ein Kind von ihm wolle. Ab 1908 entwickelten Spielrein und Jung neben dem durch ihr Studium bedingten Kontakt eine Freundschaft und, den Tagebuch-Aufzeichnungen und Briefen zufolge, eine intime Beziehung. 1909 berichtet Jung von «einem wüsten Skandal», welchen sie ihm gemacht habe. Auch Sabina Spielrein wandte sich in Briefen an Freud, was dieser Jung mitteilte. Es wird vermutet, dass dieser Briefwechsel Freud möglicherweise zu seiner Überzeugung brachte, dass ein Analytiker sich zunächst selbst einer Analyse unterziehen muss, bevor er Patienten behandelt. 1911 promovierte Sabina Spielrein als erste Frau in Zürich mit einem psychoanalytischen Thema. Ihre Dissertation trug den Titel «Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie». Jung veröffentlichte sie im «Jahrbuch der Psychoanalyse». Im gleichen Jahr hielt sich Spielrein in München und während neun Monaten in Wien auf, wo sie Sigmund Freud kennenlernte und in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen wurde. Am 14. Juni 1912 heiratete sie in Rostow am Don den russisch-jüdischen Arzt Pawel Naumowitsch Scheftel. Am 17. Dezember 1913 kam in Berlin die gemeinsame Tochter Irma Renata zur Welt. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs gelang der Familie die Flucht aus Deutschland in die Schweiz. Pawel Scheftel verliess die Familie, um in Russland Militärdienst zu leisten. Von 1915 bis 1921 lebte Sabina Spielrein mit ihrer Tochter in Lausanne, behandelte Patienten und veröffentlichte weitere Artikel in psychoanalytischen Zeitschriften. 1923 kehrte sie in die mittlerweile gegründete Sowjetunion zurück. Sie arbeitete am Staatlichen Psychoanalytischen Institut in Moskau und wurde Mitglied der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung. 1924 kehrte sie in ihre Geburtsstadt zurück und lebte wieder zusammen mit ihrem Mann. Am 18. Juni 1926 kam die zweite Tochter Eva zur Welt. 1929 wurde die Psychoanalyse in der Sowjetunion als «idealistisch» verboten, worauf Spielrein als Pädologin arbeitete, bis auch diese Tätigkeit 1937 verboten wurde. Aus wirtschaftlichen Gründen arbeitete sie danach mit einem Teilzeitpensum als Ärztin, veröffentlichte jedoch weiterhin Aufsätze in ausländischen psychoanalytischen Zeitschriften. Trotz dem Risiko von persönlichen Konsequenzen wegen ihrer Publikationen und nach dem deutschen Überfall wegen ihrer jüdischen Herkunft entschloss sich Spielrein dagegen, mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt zu fliehen. Nach dem Überfall deutscher Truppen auf die Sowjetunion wurde Rostow am 24. Juli 1942 zum zweiten Mal von der Wehrmacht eingenommen. Am 11. und 12. August 1942 mussten sich die rund 25'000 in Rostow lebenden Juden – unter ihnen Sabina Spielrein und ihre damals 29- und 16-jährigen Töchter – in einem Schulgebäude versammeln, wurden zur «Schlangenschlucht» ausserhalb der Stadt gebracht und dort ermordet. Felix Werner |
Sabina Spielrein
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