In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Schweiz besonders geschätzter Studienort. 1872 kamen sagenhafte 95 % der Studentinnen an der Universität Zürich aus Russland.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann in Russland ein fortschrittliches Bürgertum an Bedeutung, welches oppositionellen Kräften nahestand und das zaristische Russland reformieren wollte. Als Folge davon erstarkte eine Bewegung, die sich für mehr Bildungsmöglichkeiten für Frauen stark machte. In verschiedenen russischen Städten wurden Mädchengymnasien eröffnet. Diese Schulen waren eine wichtige Grundvoraussetzung dafür, dass sich junge Frauen auf ein Studium vorbereiten konnten. Um 1860 begannen Frauen in Sankt Petersburg als Hörerinnen Vorlesungen an der Universität zu besuchen. Nach Studentenunruhen wurde das unterbunden und der Zugang zu Universitäten wurde den Frauen generell verboten. Als Folge wichen viele junge Russinnen ins Ausland aus. Wegen der damals trotz Widerstandes konservativer Kräfte vergleichsweise fortschrittlichen Ausrichtung ihrer Universitäten wurde die Schweiz für viele von ihnen zu einem besonders beliebten Studienort. Damit wurden russische Studentinnen zu Pionierinnen des Frauenstudiums in der Schweiz. 1864 wurde die Russin Marija Alexandrowna Knjazˇnina als erste Studentin an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich zugelassen. Damit wurde ein Präzedenzfall geschaffen. 1867 promovierte die Russin Nadeschda Prokofjewna Suslova (1843 –1918) an der Universität Zürich zur Doktorin der Medizin. Sie war damit die erste Frau in der Schweiz und im deutschsprachigen Raum, die an einer staatlich anerkannten Universität ein reguläres Studium abschloss. 1871 begann Nadeschda Smeckaja als erste Frau ein ordentliches Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH in Zürich im Fach Maschineningenieurwesen. 1872 machten Studierende aus Russland über 30 Prozent aller Studierenden an der Universität Zürich aus. Bei den Frauen betrug ihr Anteil mit 109 Studentinnen sogar sagenhafte 95 Prozent. 1873 drohte die russische Regierung Studentinnen wegen möglicher Kontakte zu revolutionären Studentengruppen mit einem Berufsverbot in ihrer Heimat und ihnen befahl, die Universität Zürich zu verlassen. Daraufhin wechselten etwa 20 russische Studentinnen – vor allem der Medizin - von der Universität Zürich nach Bern, wo das Frauenstudium 1874 offiziell anerkannt wurde. 1875 die Russin Stefania Wolicka reicht als erste Frau eine Dissertation an der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich ein. Ihr Titel lautet: «Griechische Frauenfiguren». 1877 wurde Russin Marie Kowalik als erste Frau an der ETH in Zürich diplomiert. Ihr Fachgebiet war die Land- und Forstwirtschaft. 1898 habilitierte sich die russische Philosophin Anna Tumarkin (1875 –1951) als erste Frau an der philosophischen Fakultät der Universität Bern und wird zwei Jahre später die erste ausserordentliche Professorin an einer Schweizer Universität. 1907 erreichte die Zahl der russischen Studentinnen an den Schweizer Universitäten mit 1478 ihren Höhepunkt. Die meisten von ihnen studierten Medizin. Die Schweizer Bevölkerung reagierte auf die russischen Studentinnen ambivalent. Teile der Presse berichteten negativ über sie, was an mehreren Universitäten zu erschwerten Zulassungsbedingungen für Ausländerinnen und teilweise sogar zu Ausschlüssen führte. Trotzdem stieg der Frauenanteil an Universitäten bis 1906 dank der Ausländerinnen gesamtschweizerisch auf rund ein Viertel. Junge Schweizerinnen werden dadurch ermutigt, ebenfalls ein Studium zu ergreifen. Die Zahl der Schweizer Studentinnen blieb jedoch bis zur Jahrhundertwende äusserst gering. Ein wichtiger Grund dafür war, dass für sie keine vorbereitenden Gymnasien existieren. Wer als Frau ein Studium erfolgreich abschloss, hatte mit Widerständen zu kämpfen. Angehende Ärztinnen erhielten keine Assistenzstellen, Juristinnen wurden nicht zum Anwaltsberuf zugelassen, Germanistinnen und Historikerinnen durften nur an Mädchenschulen unterrichten und Theologinnen keine Predigten halten. Das führte dazu, dass sich viele der ersten Studentinnen in der Frauenbewegung für die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Frauen engagieren. Erst nach 1915 waren an den Schweizer Universitäten insgesamt mehr Schweizerinnen als Russinnen eingeschrieben, was aber hauptsächlich auf den Rückzug der Russinnen zurückzuführen war. Der Anteil ausländischer Studierender ging in dieser Zeit wegen des 1. Weltkriegs und der politischen Entwicklung in ihren Heimatländern stark zurück. Nach wie vor blieb der Anteil ausländischer Studentinnen hoch. Von den rund 3000 Frauen, die bis 1929 ein Hochschulstudium in der Schweiz abgeschlossen hatten, waren nur 700 Schweizerinnen. Felix Werner Quelle Eidgenössische Kommission für Frauenfragen; Zur Geschichte der Gleichstellung in der Schweiz 1848 – 2000 |
Nadeschda Suslowa (1843-1918)
Anna Tumarkin (1875 - 1951)
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