Lew Tolstoi bewunderte während eines Aufenthalts in Luzern die Schönheit der Landschaft und beklagte die Distanziertheit der wohlhabenden Leute in seiner Erzählung «Luzern».
Lew Nikolajewitsch Tolstoi (deutsch häufig auch Leo Tolsoi) wurde am 9. September 1828 in Jasnaja Poljana bei Tula geboren. Er entstammt einem russischen Adelsgeschlecht. Sani Vater war der russische Graf Nikolai Iljitsch Tolstoi (1794-1837), seine Mutter Marija Nikolajewna, geb. Fürstin Wolkonskaja (1790-1830). Mit neun Jahren wurde Tolstoi Vollwaise. 1844 begann er ein Studium der orientalischen Sprachen an der Universität Kasan und wechselte später an die juristische Fakultät. 1847 brach der das Studium ab und zog auf das Stammgut der Familie in Jasnaja Poljana, wo er die Situation der 350 geerbten Leibeigenen mittels Landreformen und der Einrichtung von Dorfschulen verbesserte. Von 1851 an erlebte er in der zaristischen Armee als Fähnrich den Krieg im Kaukasus und 1854 im Krimkrieg den Stellungskrieg in der belagerten Festung Sewastopol. Ab 1855 lebte er abwechselnd auf dem Familiengut, in Moskau und in St. Petersburg. 1857 und 1860/61 bereiste er Westeuropa - unter anderem auch die Schweiz. Anlässlich eines Besuches in Luzern übernachtete er im Hotel Schweizerhof. Er bewunderte die schöne Landschaft um Luzern und den Vierwaldstädtersee, erkannte aber bereits die Nachteile des zunehmenden Tourismus und störte sich an arroganten Engländern und an der Abneigung der Einheimischen gegenüber einem Bettler. Literarisch verarbeitete er diese Eindrücke in der Kurzgeschichte «Luzern». Der fiktive Fürst D. Nechljudow verbringt die Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1857 im Hotel Schweizerhof. Er geniesst die wunderschöne Landschaft und die Berge, deren Gipfel – speziell die Rigi – die herrlichsten Aussichten der Welt böten. Nach dem Abendessen verlässt er das Hotel aber schlecht gelaunt, da ihn die wortkargen Engländer in eine traurige Stimmung versetzt haben. Auf einem Spaziergang durch die Gassen von Luzern hört er reizvolle Musik. Ein armer Bettler spielt auf einer Gitarre und singt dazu. Die Herrschaften im Hotel kommen zwar auf die Balkone und Passanten bleiben stehen, am Schluss hält es aber niemand für nötig, dem armen Mann etwas zu geben. Fürst Nechljudow eilt ihm nach kurzem Überlegen nach, um ihm im Hotel eine Runde zu spendieren. Er darf mit seinem Gast aber den feinen Speisesaal betreten und muss stattdessen in der Schankstube Platz nehmen, wo die beiden vom Personal ruppig behandelt werden. Er bestellt absichtlich den besten Champagner und hört sich ausführlich die Geschichte des Bettlers an. Nach diesem Erlebnis übt der Fürst für sich Kritik am sogenannten liberalen Europa und an den neuen republikanischen Gesetzen der Schweiz. Es ist ihm nicht klar, warum Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihrer Situation so schlecht behandelt werden. Auf seinen Reisen interessierte sich Tolstoi für reformpädagogische Bestrebungen und besuchte Künstler wie Charles Dickens und Iwan Sergejetitsch Turgenew und Pädagogen wie Adoph Diesterweg. Nach seiner Rückkehr richtete der mehrere Dorfschulen ein, um die Bildung der einfachen Bevölkerung zu verbessern. Sein Engagement verdeutlicht ein Auszug aus einem Schreiben, welches er seiner am Zarenhof in St. Petersburg lebenden Verwandten A. A. Tolstaja schrieb: «Wenn ich eine Schule betrete und diese Menge zerlumpter, schmutziger, ausgemergelter Kinder mit ihren leuchtenden Augen […] sehe, befällt mich Unruhe und Entsetzen, ähnlich wie ich es mehrmals beim Anblick Ertrinkender empfand. Grosser Gott – wie kann ich sie nur herausziehen? Wen zuerst, wen später? […] Ich will Bildung für das Volk einzig und allein, um die dort ertrinkenden Puschkins […] Lomonossows zu retten. Und es wimmelt von ihnen an jeder Schule.» In den folgenden Jahren schrieb er die berühmten Romane «Krieg und Frieden» (1862–1869) sowie «Anna Karenina» (1873–1878), die seinen literarischen Ruhm begründeten. Mit der wachsenden Anerkennung, die er zunächst zu lieben glaubte, begann für Tolstoi aber eine Phase der Orientierungslosigkeit und Sinnsuche. Er verzichtete auf das Rauchen, Alkohol und die Jagd und ernährte vegetarisch. Seit 1881 hatte er sich auch intensiv religiösen Fragen zugewandt. Als Beteiligter an der Volkszählung in Moskau nahm er 1882 unter den Arbeitern ein Elend wahr, das jenes der Bauern noch übertraf. Tief erschüttert versuchte er der Landflucht entgegenzuwirken, indem er Hilfe für von Missernten betroffene Bauern organisierte. In dem Mass, in dem seine Bekanntheit im Ausland steig, veränderte sich im Inland zu Misstrauen. Seit 1882 stand er unter polizeilicher Überwachung. Nach Veröffentlichung seines Romans «Auferstehung» wurde er exkommuniziert. Tolstoi lehnte sozialistische Bestrebungen im Sinne einer Diktatur des Proletariats ab und wünschte sich eine durch Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit geprägte anarchistische Gesellschaft. Kurz vor seinem Tod hatte ihm Mahatma Gandhi, der sich bereits in seiner Jugend auf Tolstoi bezogen hatte, sein kleines Buch «Hind Swaraj» («Indische Selbstverwaltung») geschickt, in welchem er nach Tolstois Grundsätzen das tugendhafte Leben ohne Besitz im Gegensatz zu den kapitalistischen Prinzipien von Wachstum und wirtschaftlichem Fortschritt propagiert und seine Satyagraha-Lehre eines gewaltlosen, aber aktiven Widerstands darlegt. Tolstoi hatte die Schrift gelesen und Gandhi in einem Brief ermutigt. Die zunehmenden Konflikte mit der Obrigkeit und staatliche Willkürmassnahmen wie eine Hausdurchsuchung, bei der 1908 alle auffindbaren Texte konfisziert wurden, hatten auch Auswirkungen auf seine familiäre Situation. Seine Frau lehnte es ab, die in seinem Testament dem russischen Volk vermachten literarischen Werke als gemeinsame Besitztümer des Volkes anzusehen. Tolstoi verliess mit seinem Arzt und seiner jüngsten Tochter die Familie und begab sich auf eine Reise in Richtung Süden. Auf dieser Reise in einem offenen Zug erkrankte er an einer Lungenentzündung und starb am frühen Morgen des 20. November 1910 im Haus des Bahnhofvorstehers Astapowo, umlagert von der Weltpresse. Zwei Tage später wurde er in Jasnaja Poljana begraben. Felix Werner |
Lew Nikolajewitsch Tolstoi (Gemälde von Ilja Jefimowitsch Repin, 1887)
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