Anatoli Lunatscharski gilt als einer der bedeutendsten marxistischen Kulturpolitiker. Er studierte in Zürich und hielt sich bis 1917 mehrere Male für längere Zeit in der Schweiz auf. Er besass profunde Kenntnisse der westeuropäischen Kunstszene und setzte sich für die Avantgarde ein. Zudem übersetzte er die Werke des einzigen gebürtigen Schweizer Literaturnobelpreisträgers Carl Spitteler und von Conrad Ferdinand Meyer ins Russische.
Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski wurde am 23. November 1875 in Poltawa, einer heute in der Ukraine liegenden Stadt im damaligen Russischen Kaiserreich, als Sohn eines höheren Beamten geboren. Am Gymnasium in Kiew kam er erstmals mit revolutionärem Gedankengut in Kontakt. Als Folge davon wurde ihm wegen «politischer Unzuverlässigkeit» ein Studium an der Moskauer Universität verweigert. Deshalb emigrierte er nach der Absolvierung des Gymnasiums in die Schweiz, wo er ab 1895 an der Universität Zürich Philosophie und Naturwissenschaften studierte, unter anderem bei Richard Avenarius, der ihn massgeblich beeinflusste. Der bürgerliche Philosoph Avanarius gilt als Begründer des Empiriokritizismus oder auch Machismus, einer Philosophie die Erfahrungen (Sinneswahrnehmungen, Messwerte, Erlebnisse, Anschauungen, Befunde) als die alleinigen Gegenstände bezeichnet, von denen ausgehend sich Wissenschaft befassen soll und alle über den eigenen Erfahrungshorizont hinausgehenden Schlüsse ablehnt. 1897 kehrte Lunatscharski nach Russland zurück, wurde Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Russlands und nahm seine illegale revolutionäre Arbeit als Propagandist, Agitator und Organisator wieder auf. Dadurch geriet er mit der Obrigkeit immer wieder in Konflikt und wurde mehrfach verhaftet, zu Gefängnisstrafen verurteilt und verbannt. 1904 emigrierte er ein zweites Mal in die Schweiz und liess sich zunächst in Genf nieder, wo er für die kommunistische Zeitschrift «Proletarier» sowie «vorwärts», einer seit 1893 bestehenden Zeitung, die ursprünglich Organ der 1888 gegründeten Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und später der Kommunistischen Partei der Schweiz war, arbeitete. 1905 kehrte Lunatscharski nach Sankt Petersburg zurück, wurde erneut verhaftet und floh nach Stockholm. 1908 erregte er Aufmerksamkeit mit einer Schrift, in der er eine Verbindung zwischen Religion und Marxismus herzustellen versuchte. 1910/11 weilte er in Italien, wo er eine Schule nach dem Montessori-Prinzip aufbaute. Später arbeitete er in Paris wieder als Journalist. 1915 liess er sich im waadtländischen Saint-Légier nieder. 1917 kehre er mit dem zweiten «Emigrantenkonvoi» nach Russland zurück. Während des Aufenthalts von Lenin in der Schweiz gehörte Lunatscharski zu dessen engerem Kreis und obwohl er in Kunstfragen im Unterschied zu Lenin eine eher liberale Haltung vertrat, ernannte ihn dieser im November 1917 zum ersten sowjetischen Volkskommissar für das Bildungswesen. 1922 heiratete er die sowjetische Schauspielerin Natalya Alexandrowna Rosenel. In seiner Funktion als Volkskommissar sorgte Lunatschenko dafür, dass auch unter der «Neuen Ökonomischen Politik», die ab 1921 galt, der Avantgarde noch Freiräume offenstanden. Lunatscharski war ein ausgesprochen geschickter Taktierer, der mitunter in Kauf nahm, dass sich seine Äusserungen widersprachen. Er verstand sich als politischer Revolutionär, bei dem die Bedürfnisse der Massen von Arbeitern und Bauern Vorrang hatten. Trotzdem konnte er den Niedergang der avantgardistischen Kunst in der Sowjetunion nicht verhindern. Seines Amtes enthoben wurde er im Juli 1929 von Josef Stalin, nachdem er im April 1929 gegen den Abriss der Kremlklöster protestiert hatte. Anlässlich der Abrüstungsverhandlungen des Völkerbundes weilte Anatoly Lunatscharski von 1927 bis 1932 alljährlich in Genf. Besonders interessiert war er Zeit seines Lebens an den Künsten, der Literatur, dem Theater und der Musik. Er besass profunde Kenntnisse der westeuropäischen Kunstszene und übersetzte die Werke des einzigen gebürtigen Schweizer Literaturnobelpreisträgers Carl Spitteler und diejenigen von Conrad Ferdinand Meyer ins Russische. Am 28. Dezember 1933 starb Anatoly Lunatscharski in Menton an der Côte d’Azur in Frankreich. Seine Urne wurde an der Nekropole an der Kremlmauer in Moskau beigesetzt. Von 1934 bis 1991 trug das Moskauer Staatliche Institut für Theaterkunst zu Ehren Lunatscharskis dessen Namen, ebenso das Weissrussische Staatliche Konservatorium in Minsk von 1934 bis 1992. Zudem wurde der 1971 entdeckte Asteroid des inneren Hauptgürtels (2446) nach ihm benannt. Felix Werner |
Anatoly Lunatscharski mit Lenin (um 1918)
Anatoli Lunatscharski mit Ehefrau Natalya Rosenel (1930)
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